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Kirche nimmt Fahrt auf

Vortrag von Prof. Ralph Kunz, gehalten an der Veranstaltung Semper reformanda vom 23. Juni 2016

Herr, nun selbst den Wagen halt, bald abseit geht sonst die Fahrt! Das ist ein Lied von Huldrych Zwingli. Zum Auftakt ein paar Erläuterungen dazu: Zwingli war sich wohl bewusst, dass die Zukunft der Kirche eine Fahrt ins Ungewisse ist. Ganz besonders im Jahr 1529 – das Jahr der Entstehung des Liedes. Typischerweise ging es damals nicht um das rechte Verständnis des Abendmahls, den Ablasshandel oder das Amtsverständnis. Hintergrund der Komposition war die Angst, dass das Reformprojekt in einen Krieg münden könnte. Die Gründe dafür waren handfeste Interessenskonflikte: der politische Einfluss Zürichs auf die gemeinen Orte war aus Sicht der Innerschweizer wirtschaftlich zur Bedrohung geworden. Denn Zwingli war ein Gegner des Söldnerwesens. Was er für ein Geschwür des Bösen hielt, war für die Altgläubigen in den unwirtlichen Bergen eine Einnahmequelle. Über den Eidgenossen hingen also drohende Wolken. Ein Bruderkrieg war im Anzug. Singen wir, was der Reformator dichtete.

„Herr, nun selbst den Wagen halt“, erinnert daran, dass die Reformation eine Bewegung war. Ihrem Selbstverständnis nach sind die Reformierten bis dato eine solche geblieben. Die klassisch Gebildeten haben Gelegenheit, Latein zu repetieren: semper reformanda wurde zur Formel dafür. Das Gerundium kombiniert mit der vollmundigen Verstetigungsabsicht „semper“ erinnert daran, dass weder Amt und Würden noch Ordnung und Raum der Kirche per se heilig sind. Sie sind nur Formen für den Inhalt, Gefässe für den Geist, und Instrumente, die der Heiligung dienen. Semper reformanda heisst auch das Deformierte und Deformierende abschaffen. Wenn das Geschirr nichts taugt, kann es getrost entsorgt und ersetzt werden. Nur etwas ist sakrosankt, meinte Zwingli: die Schrift und die Predigt, die das Wort Gottes zu Gehör bringt.

„Semper reformanda“ ist darum kein Argument, alles in den Grund und Boden zu stampfen und neu zu bauen. Damals nicht und heute nicht. Es erklärt nicht Ent-Wicklung oder Fort-Schritt zum Prinzip, sondern eine Sichtweise: Kirche entsteht da, wo die Bibel ausgelegt wird und aus Hörern Täter des Wortes werden. So war es am Anfang, so auch jetzt und alle Zeit.

„Semper reformanda“, recht verstanden, macht deutlich, dass die Re-Formation auch ein Rückwärts- oder besser: eine Wieder-vom-Anfang-her-Bewegung sein wollte. Also ganz bestimmt kein permanenter Umbau und ganz bestimmt keine neue Religion und zu allerletzt ein Ausscheren aus der einen heiligen katholischen Kirche! „Hilf o Herr, dass alte Treu wiederkehr und werde neu.“

Das war es, was die Reformatoren wollten. So kam vor 500 Jahren etwas in Fahrt, dass wir heute unsere Kirche nennen. Mit einem anderen Lied: Und der Wagen der rollt, rollt, rollt. Die Reformationshistoriker sind sich nicht ganz einig darüber, wie man die verschiedenen Faktoren gewichten soll, die zu einer Bewegung der Fahrenden führten: Das Lied erzählt ein Episode, die typisch ist fürs Ganze. Es gab neben religiösen, ja auch ökonomische, soziale und politische Treiber, so dass in den freien, reichen und relativ selbstständigen Süddeutschen Reichsstädten der Reihe nach Reformen gefordert und durchgeführt wurden: neben Zürich Strassburg, Basel, Schaffhausen, St. Gallen und Konstanz.

Und jetzt drohte Gefahr. Das Bild der unkontrollierbaren Fahrt, die Angst, das Ganze könnte entgleiten, ist ein Bild aus Zeiten, bevor es Automobile samt Abgastest-Betrügereien gab. PS waren noch PS. Und Wagen nicht so leicht zu lenken oder zu bremsen, wie ein VW. Das Bild ist archetypisch. Im Gleichnis für die Seele werden die Triebe von der Vernunft in Zügel gehalten.

Gott soll lenken, bat der fromme Reformator, packte seine Hellebarde und reiste nach Kappel. Über den Albis. Es war anstrengend. 5 Jahre Leutpriesteramt mit viel Schreibtischarbeit, die Aufhebung der Fastengebote und die Ehe mit einer guten Köchin forderten ihren Tribut. Man sieht’s auf den Bildern. (Auch Martin Luther hat zugenommen …) Bewegung tut gut, aber Zwingli wäre es natürlich lieber gewesen, er hätte in Zürich bleiben können.

Hat er das Lied gesungen, gesummt oder gepfiffen, als er nach Kappel ging? War er ängstlich? Die Worte sprechen für sich. Sie sind vom Psalter inspiriert. Einer fürchtet sich, betet: „Herr hilf!“ und weiss doch: man muss tapfer sein. Er fühlt wie einer, der merkt, dass die Pferde durchgehen. Wer hat die Zügel in der Hand? Sozusagen das Gas- und Bremspedal samt Steuerrad? Zwingli war sich bewusst, dass er ein Risiko einging. Wie schnell durfte er die Reform treiben? Wie viel Reform-PS kann der menschliche Lenker noch zügeln? Gibt es ein Tempo dass aus dem Gefährt ein Geschoss macht, das bei der nächsten Kurve in die Wand oder den Grund donnert?

Er kam noch einmal davon – es ging noch einmal gut. 1529 einigte man sich und ass Milchsuppe. Allerdings … Zwei Jahre später geschah es dann doch. 1531 fiel Zwingli in der Schlacht bei Kappel. Liegt der Wagen im Graben? Ist die Bewegung gestoppt? Sind Gott die Zügel entglitten?

Hier stehen wir und fahren noch. Vor einigen Jahren hielt der damalige Kirchenratspräsident Ruedi Reich eine Rede, in der er eine bemerkenswerte Antwort formulierte. Die Niederlage bei Kappel war eigentliche keine Katastrophe. Sie beendete die Zürcher Expansionspolitik. „Sie händ uf d’Schnorre überchoo.“ Aber damit ist ein ganz eigenartiges und in seiner Art einmaliges Gebilde entstanden. Der Anfang der Schweiz. Ein Land mit zwei Konfessionen. Ein Nebeneinander zweier religiöser Kulturen.

Die Reformierten – eine beinah gestoppte Bewegung – begannen sich zu etablieren und institutionalisieren, sie schufen Instrumente und Orientierungshilfen, um auf Kurs zu bleiben: Katechismus, Kirchenzucht und natürlich die Predigt. Und so tuckerte das Schiff, das sich Kirche nennt, auf mehr oder weniger stürmischer See gut 300 Jahre durch die Zeiten.

Im Turmzimmer der Predigerkirche – ich meine auch im Grossmünster – sind Köpfe der Steuermänner, also der Pfarrer, von der Reformation bis zur Gegenwart gehängt. Man bekommt einen Geschmack für die Geschichte und – sieht man von Frisur und Talarmode einmal ab – auch eine Idee der Kontinuität. Warum soll es nicht so weiter gehen bis zum jüngsten Tag? Braucht es eigentlich einen göttlichen Lenker? Der Wagen der rollt, rollt, rollt. Wohin?

Es gibt das bekannte Wort des französischen Theologen Loisy: Jesus hat das Reich Gottes verkündigt, gekommen ist die Kirche.

Übertragen auf die Reformation: die Reformatoren wollten die katholische Kirche bewegen, eine neue Konfession ist daraus geworden. Die Kirche wurde staatstragend. Sie stützte die Gesellschaft, die Moral und Sittlichkeit. Am Anfang war sie Bewegung. Mit der Zeit wurde sie als eine Instanz gesehen, die Bewegungen verhindert: Rationalismus, Pietismus, Aufklärung, Modernismus, Liberalismus und Sozialismus – der sogenannte Fortschritt bewegt die Kirche, zieht sie, stösst sie und reisst sie mit und macht sie zur Bremserin.

Von der prägenden Bewegung wurde sie zur vom Zeitgeist getriebenen Organisation: das ist aber nur eine Sichtweise dieser Entwicklung, die die soziale Gestalt in den Blick nimmt. Man muss auch die Verlagerung und Umlagerung der Religiosität erwähnen.

Die ganz starke Gewichtung der Gemeinde war ja eine reformierte Besonderheit! In der Kirche ohne Hierarchie und Klöster verschoben sich die Gewichte von oben nach unten. Die Gemeinden – sprich die Parochien – waren die wichtigsten Orte. Was damals Kilchhöri hiess, ist mit der Zeit mit dem „Dorf“ und später in der Stadt mit dem „Quartier“ verschmolzen. Was wir heute manchmal als „Milieuverengung“ beklagen, war einmal der öffentlichste Ort. Das einzige grosse Haus war die religiöse Allmend. Die Kirche steht räumlich und im übertragenen Sinne in der Nachbarschaft – neben den Wohn- und Geschäftshäusern oder sprichwörtlich im Dorf. Religion ist Sache der Korporation – eine Ableitung des Leibgedankens. Eine alle gemeinschaftlichen Kräfte verbindenden Angelegenheit!

Zur Vertikalen oben-unten kommt eine laterale Seiten- und Breitenbewegung. Mit dem Verschwinden der religiosi aus der Öffentlichkeit ist die Frömmigkeit Sache eines jeden Christen. Ob in Familie oder Beruf – das Christenleben bestimmt den Ton, Harmonie und Rhythmik. Aber es beginnt anders zu klingen. Die hochmittelalterliche Religiosität war KULT, ein Spiel mit allen Registern in grossen Tempeln. Die neue Frömmigkeit der Reformierten, war häuslicher, bieder und braver – aber auch näher, vielfältiger und profilierter.

Neben dem Kirchgang waren Hausandachten und kleine Rituale wie Tischgebet die prägenden Praktiken. Das reformierte Glaubensleben hält sich an drei Büchern fest: Gesangbuch, Katechismus und Bibel. Sing, bet und lies von Gott. Erbauliche Schriften kamen dazu und waren lange Zeit der Lesestoff schlechthin. Das alles tat man zuhause, für sich, in der Familie oder in kleinen Kreisen. Dort wurde auch gesungen. An manchen Orten auch mit Begleitung: Orgeln mit etwas weniger Registern.

Ich bin aus Winterthur. Und die Winterthurer fragen sich manchmal, ob die in Zürich alles ein bisschen zu streng sehen, keinen Sinn für Ausnahmen und Zwischentöne haben. Es ist sicher kein Zufall, hat nach 300 Jahren – in der Zeit der Französischen Revolution – die Stadtkirche Winterthur den Aufstand gewagt.

Ich rede von der Orgel. Die Saga geht, dass eine Hausorgel den Ausschlag gab. Der süsse Klang hat Lust nach mehr geweckt und die Königin der Instrumente ist wieder in den Tempel eingezogen. Zwei unterschiedliche Instrumente mit je eigenen Klangwelten symbolisieren die häusliche und die kultische Religiosität. Das eine als alt und das andere als neu zu bezeichnen, wäre kurzschlüssig. In der Kirche herrschte von Anfang an eine mixed economy.

Interessanterweise begann just mit der Rückkehr der Orgel der Anfang einer kulturellen bzw. säkularen Bewegung, die der Kirche arg zusetzte. In den letzten 200 Jahren hat sich einiges verändert – unterspült. Aus einer Staatskirche wurde im 19. Jahrhundert eine Landeskirche, die sich mehr und mehr zur Volkskirche entwickelte. Und es scheint fast, als sähen wir zurzeit, dass diese letzte Stufe – dieser Spezialfall einer institutionellen Form der Kirche für die Leutereligion an Ende gekommen ist. Die Kirche, die breite Teile der Bevölkerung vereint, beginnt sich aufzulösen. An einigen Orten im nahen Ausland, in der Schweiz und selbst im Kanton hat sie sich schon aufgelöst und ist eine Minderheitskirche geworden. Wir befinden uns im Übergang. Anders ausgedrückt: das Modell der Sozialisation funktioniert nicht mehr, ist ins Stottern gekommen. Böse Zungen behaupten, es habe nie richtig funktioniert, besonnenere Geister sehen es differenzierter. Fakt ist, dass immer weniger getauft und konfirmiert werden und immer mehr austreten oder abtreten also sterben.

Das zeichnete sich schon länger ab. Im 19. und 20. Jahrhundert stürzte die Volkskirche von einer Krise in die andere, weil sie zuerst „das gemeine Volk“ – die Arbeiter – und dann das Grossbürgertum verloren hat, mächtige Bewegungen wie Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus haben dem Säkularismus Kraft verliehen und seit den 1960er Jahren hat ein kultureller Modernisierungsschub die Privatisierung und Individualisierung der Religion verstärkt.

Kirchenaustrittswellen, Überalterung und eine für die Kirchen negative Migration führen zu den bekannten Effekten und zur Misere. Und da stehen wir nun: ärmer, älter und kleiner, und ein paar Leute meinen, wir pfeifen nach 500 Jahren – gleichgültig ob Haus- oder Kirchenorgel – aus dem letzten Loch. Stimmt das? Herrscht Stillstand in der ecclesia semper reformanda?

Eher hektisches Treiben. Wir befinden uns in einem der grössten „Umbauprojekte“ der Geschichte der reformierten Landeskirche. Die Stadt Zürich ging voran. 1 statt 34. Auch im Kanton ist eine Reduktion der Kirchgemeinden geplant. In einem vergleichsweise schnellen Tempo. Befürchtungen, dass das Gefährt „Kirche“ zu schnell fährt, gibt es. Einige beten: Herr, nun selbst den Wagen halt.

Wie auch immer, es geht weiter. weil die Richtung gewiesen, die Pisten gebaut und die Strukturen halbwegs definiert sind. Die Reformierten denken nicht nur selber, sie lenken gern auch selber. Daran soll sich bitte sehr auch der liebe Gott halten, der auf dem Beifahrersitz mitfährt. Wir sind eingefleischte Automobilisten. Nun denn: fahren wir ein wenig und fantasieren, wie es mit unserem „Wagen“. weitergehen kann. Aber bevor wir abfahren, brauchen wir eine kleine Rast. Schliesslich sind wir schon 500 Jahre oder 1500 Worte unterwegs.

Ich habe einen langen Anlauf genommen, um die Reise in die Zukunft anzutreten. Vielleicht gibt uns das Zwischenspiel der Hausorgel den richtigen Ton zum Einstieg. Kirche wird – sagen manche – in Zukunft kleiner, vielleicht häuslicher, auf jeden Fall profilierter und vielfältiger. Hingegen gerät das gemeindliche Leben, für das die Kirchenorgel steht, immer stärker unter Druck. Ob uns das gefällt oder nicht: der Gesamttrend geht in diese Richtung. Wer meint, etwas anderes behaupten zu müssen, findet sich früher oder später auf der Gegenfahrbahn und wird als Geisterfahrer aus dem Verkehr gezogen.

Was heisst das jetzt? Dort ein Grüppchen, das Jazz mag und da ein Grüppchen, das den Hardrock liebt? Um es mit einer Imkermetapher zu versuchen: Ist die Landeskirche ein Bienenhaus mit vielen Völkern? Geht es darum, die Schwärme ins Bienenhaus heimzubringen?

Das, was Völker und Schwärme unterscheidet, könnten tatsächlich Geschmacksrichtungen sein – aber auch die kleinere oder grössere Distanz zum Bienenhaus, die stärkere oder losere Bindung und Einbindung in ein Gesamtes – ein Kommunales, das territorial definiert ist. Die Schwärme wären Kirche am Weg und die Völker Kirche am Ort.

Ich entschuldige mich für den Bildersturm und hoffe, es summt nicht zu sehr. Bei allem Schwärmen für neue Wege, plädiere ich für eine nüchterne Einschätzung. Alles, was ich von Gemeinde- und Kirchenentwicklung weiss, lässt darauf schliessen, dass eine lokale Community das Rückgrat der Gemeinde ist und bleiben wird – was nicht ausschliesst, dass in derselben Community verschiedene Formen nebeneinander koexistieren.

Sie merken, dass ich den Begriff „Gemeinde“ mit spitzen Fingern anfasse, weil er missverständlich ist. Leider hat sich eingebürgert, mit „Gemeinde“ das rechtliche Gebilde zu bezeichnen. Im Englischen wäre das die parish. „Gemeinde“ ist aber theologisch auch die Versammlung. Englisch: die congregation. Durchgesetzt hat sich, diese Gemeinde Kirche am Ort zu nennen. Ich halte mich zähneknirschend an die Sprachregelung, weil ich nur ungern die theologische Bedeutung des Begriffs „Gemeinde“ aufgebe und frage. Warum bleiben Kirchen am Ort also im Quartier nach wie vor wichtig und welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen?

Ich muss hier kurz innehalten und erstens in Klammern anmerken: Zukunftsreisen haben weder mit Sterndeuten noch mit Kaffeesatzlesen zu tun. Im Unterschied zu einer rein soziologischen Klimaprognose geht es immer auch um gestaltendes und steuerndes Handeln. Wer also sagt, was kommt, der lenkt den Wagen in eine Richtung. Wer nur sagt „ärmer, älter und kleiner“ hat aber noch keine Zukunftsperspektiven. Trends – starke Strömungen und Durchschnittszahlen – sind nur Prognosen für eine Situation, die jetzt zum Handeln herausfordern. Perspektiven schlagen aber einen Weg vor. Sie sagen eine andere, wünschbare Zukunft an. Man kann sich dabei auch inspirieren lassen von anderen, die den Weg schon gegangen sind. An anderen Orten ist der Übergang von Volkskirche zur öffentlichen Minderheitskirche schon weiter fortgeschritten. Was dort funktioniert hat, könnte auch hier funktionieren und was dort nicht gelungen ist, könnte ein Anlass sein, nicht dieselben Fehler zu machen.

Also noch einmal: Warum sind Kirchen am Ort wichtig? Erste Antwort: Weil sie Heimat bieten, weil sie für verlässliche Beziehungen, alltägliche Interaktion, Vertrautheit und Nähe stehen. Reicht das? Braucht es dafür eine Kirche? Könnte man die Geselligkeit nicht auch ohne religiöse Zutaten mit einem Quartierverein herstellen? Ob Baumfeier, Quartierbeiz, Sommertanz, 1. August-Feier, Cervelat-Kebab-Olympiade, Kinderwagenrennen für Herren im besten Alter … das alles und noch viel mehr ist nicht zwingend auf die Christengemeinde angewiesen. Die erste Frage ist, warum die Christengemeinde da ist. Was will sie bewegen? Wofür steht sie ein?

Ich hatte letzte Woche das Vergnügen, mit verschiedenen Experten für Gemeinde- und Kirchenentwicklung aus Holland, Schleswig und London zu diskutieren. Es war wirklich inspirierend und hoffnungsvoll! Es gibt Kirchen, die wachsen. Der Bischof von Kensington, Graham Tomlin, brachte es auf den einfachen Grundsatz: Die Kirche im 21. Jahrhundert hat eine Zukunft, wenn sie sich nicht ums eigene Überleben kümmert, sondern alles daran setzt, ein Segen für andere zu sein. In London ist es gelungen, dass Kirchgemeinden mit mehr Kreativität Wege gefunden haben, den Menschen in ihrem Umfeld zu dienen, weil sie sich konsequent daran machten, für die geistliche Kraftzufuhr ihrer Mitglieder zu sorgen.

Das hört sich einfach an. Und vielleicht fragen Sie sich: Haben wir denn nicht schon alles getan und es geht doch nicht vorwärts? Zwingli dichtete 1529: „Weck die Schaf mit Deiner Stimm, die Dich liebhaben inniglich.“ Die Schaf-Metapher mag ein wenig altmodisch sein, das Er-Wecken frömmlerisch, aber die Quintessenz bleibt hochaktuell. Spiritualität und Solidarität sind die beiden Ingredienzen einer zukunftsfähigen religiösen Vergemeinschaftung. Bonhoeffer prägte die Formel: Beten und das gerechte Tun. Und noch einmal Zwingli: Gott, erhöh Dein Namens Ehr.

Eine Kirche, die nur um ihr Überleben kämpft, verteidigt ihre Strukturen, anstatt sich zu bewegen. Sie verbarrikadiert sich. Eine Kirche, die Gottes Ehre sucht, um Menschen zu segnen, nimmt wieder Fahrt auf.

Die Reise in die Zukunft ist mit Abschieden verbunden: das flächendeckende Christentum, zu dem man gehören musste, ist Vergangenheit. Die verordnete Gläubigkeit war Segen und Fluch zugleich. Schon heute und erst recht morgen sind Menschen gefragt, die dazugehören wollen, weil sie von der Freude des Glaubens erfüllt sind, weil sie sich um andere kümmern, weil sie gemeinsam und nicht einsam leben möchten und in ihrem Umfeld Aufgaben sehen, die man anpacken muss. Es ist ein Paradox: Die reformierte Kirche bleibt ecclesia semper reformanda, wenn diejenigen, die dazu gehören, zur Bewegung des Jesus von Nazareth stehen!

Vielleicht haben Sie es erkannt? Das war die Melodie von Mani Matters Lied „Mir hei Verein“. Matter lenkt die Gretchenfrage – wie hältst Du’s mit der Religion? – auf die urhelvetische Form der gemeinnützigen Rechtsform des Vereins um. Und wir gehen mit dem Song im Rucksack in die Schlusskurve unserer Reise in die Zukunft.

Wo ist Kirche und wie organisiert sie sich in Wollishofen, wenn weniger Kraftstoff sprich „Geld“ fliesst? Antwort: Dort, wo sich Menschen finden, die zu ihr stehen, ihr Kraft geben und von Gottes Kraft zehren. Vielleicht ändert sich die Organisationsstruktur und wir haben neue Fahrgemeinschaften namens Kirchenkreis. Aber das Leben findet nicht in Sitzungen statt. Gebetet, gefeiert, gelernt und gehandelt wird am Ort.

Im Kleinbasler Matthäusquartier haben sich die Strukturen der Kirchgemeinde mehr oder weniger aufgelöst. Und doch beherbergt die Matthäuskirche im Herzen des Quartiers eine der lebendigsten und kreativsten Gemeinden der Stadt. Die Mitenandgemeinde wird von Laien geleitet. Im Kernteam sind Menschen aus Burma, Senegal, China und der Schweiz. Jeden Sonntag ist von morgens um acht bis abends den ganzen Tag Kirche. Die Kirche ist der Quartiertreffpunkt. Nicht nur für Christen. Aber von Christen geleitet und verantwortet. Si hei e Verein.

Auch andere Ausdrucksformen des geistlichen und kulturellen Lebens brauchen Verbindlichkeit. Der Verein eint die, die sich engagieren. Das Minus, das er an rechtlicher Robustheit bietet, macht er wett durch das Plus an Beweglichkeit. Kirchgemeinde plus Verein hat Zukunft. Es braucht Strukturen, um die Energien von unten zu sammeln und Initiativen der Nähe zu vereinen. Ein Verein kann sich leichter auflösen, ist mehr Zelt als Haus und darum für Bewegte ein Unterstand. Herr, nun selbst den Wagen halt, ist ein Weckruf für alle, die Freude daran haben, dass die Kirche Fahrt aufnimmt und unterwegs ist.

Ich habe keine Angst, dass die Fahrt „bald abseit geht“, solange wir „vereint“ sind. Das hat eine tiefere Bedeutung – vereint mit Gott und es hat eine ganz weltliche Dimension. Wir müssen auch bezüglich Reformen nur die richtige Mixtur finden.

Ich habe für die Bewegung plädiert und bin bei der Struktur gelandet, die Bewegung erlaubt, die dem Leben dient und Halt verleiht. Es ist alles eine Frage der richtigen Registrierung und Leitung.

Kirchkreisleitung gelingt dann, wenn das nötige Mass an Steuerung mit dem richtigen Mass an Vertrauen in die Verantwortung der gelebten Gemeinde gekoppelt wird. Das Gegenteil – viel Kontrolle und wenig Vertrauen – würgt Initiativen ab. Wie viel Bewegung so entsteht, kann man in Nordkorea oder in Hochsicherheitsgefängnissen beobachten. Man muss auch die andere Gefahr sehen weder Vertrauen noch Steuerung wäre auch waghalsig. Oder positiv gewendet: wenn beides zusammenkommt die Kraft von unten und die Weisheit von oben, geschehen Wunder.

Darum ist mein Schlussakkord gut biblisch ein Ruf: Freut Euch. Wir haben keinen Geist der Verzagtheit, sondern einen der Kraft, der Liebe und Besonnenheit. Das sollen wir bezeugen, davon sollen wir singen und sagen mit allen Registern und Manualen, Lippen- und Zungenpfeifen, auf allen Oktaven, in Quinten und Mixturen vereint mit den himmlischen Chören.


Ralph Kunz ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich

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